Notizen aus dem Eis 136 | Das Rote Meer

Polarkolumne von Birgit Lutz



Nebel kann die Welt stillstehen lassen. So wirkte es an einem Augusttag im Wahlenbergfjord auf uns.

Normalerweise freut man sich nicht so über Nebel, vor allem nicht in der Arktis, wo sich in den Schwaden Tiere verstecken können, von denen man sich nicht überraschen lassen will. Normalerweise bedeutet Nebel in Spitzbergen, dass man lieber nicht an Land geht.

Nebel kann jedoch auch wunderschön sein. Wie wunderschön, das erlebten wir an einem Tag im August, bei einer Spitzbergenumrundung mit der schönen Antigua. Wir waren in den langen Wahlenbergfjord eingefahren, jenen etwa 40 Kilometer langen Fjord, der von Westen in die Insel Nordaustlandet einschneidet. Nordaustlandet, die Insel der polaren Wüste im Osten der Inselgruppe, ist zu einem großen Teil vergletschert. Im Wahlenbergfjord hat man bei Wanderungen die Möglichkeit auf sehr gute Blicke auf die großen Eiskappen, die diese Insel bedecken. Wenn es nicht neblig ist.

An jenem Tag konnten wir Insel und Eiskappen nicht einmal erahnen. Wir saßen im allerhintersten Winkel des Wahlenbergfjords, der Bodleybukta, in einem Nebel, der so dicht war, dass man nach ein paar Minuten an Deck feuchte Kleidung bekam. In diesem Nebel zogen kleine Eisbröckelchen an uns vorbei, die von Gletschern abbrachen, die wir auch nicht sehen konnten.

Nördlich von uns floss der Bodleybreen hier in den Fjord, ein Auslass der Vestfonna, der westlichen der beiden Eiskappen Nordaustlandets. Wenn man an Deck stand, hörte man nur ab und an das Plätschern des Wassers gegen die Bordwand. Ansonsten nur eine geheimnisvolle Stille.

Wir stiegen in unsere Schlauchboote, hinein in diesen Nebel, hinein in die Ruhe. Bis hier ans Ende des Fjords drangen keine Wellen. Das Wasser lag vollkommen flach um uns. Langsam und leise fuhren wir in diese stille Welt hinein, die durch uns ein wenig in Bewegung geriet, mit kleinen Wellen, die sich hinter uns auseinanderzogen.

Wir befuhren eine Zauberwelt. Denn das Meer, durch das wir nun sanft glitten, war rot, durch die Sedimente, die hier in den Fjord gespült oder aufgewirbelt wurden. So rot, dass das Wasser beinahe dickflüssig aussah. In diesem roten Meer schien es nun, als würden weißblaue Eisberge auf uns zu schweben. Wir erkannten nicht mehr, wo das Wasser endete und der Himmel begann, das Rot des Wassers spiegelte sich im Nebel um uns herum, es gab keinen Horizont mehr, und so hingen diese Eisberge seltsam im Nichts.

Diese Fahrt wird mir für immer als eine der seltsamsten, außergewöhnlichsten, schönsten in Erinnerung bleiben. Wir trauten uns kaum zu sprechen; wenn jemand etwas sagte, erschraken wir beinahe, so durchschnitten die Laute die Stille. Schemenhaft tauchten immer wieder Eisberge um uns auf, gewannen an Schärfe und Kontur, wuchsen und waren oft erstaunlich groß. Wir umkreisten sie leise und hielten ein ums andere Mal inne. Der Nebel umhüllte uns, er gab nicht nach, er lichtete sich nicht, er blieb auf uns liegen wie ein kühlendes Tuch.

Das Schiff war lange in den Nebelschwaden verschwunden, als wir nun wieder Kurs zurück nahmen, versuchten unsere Augen gebannt, vor uns etwas zu erkennen. Die Masten der Antigua stießen erst aus dem Nebel, als wir schon ganz nah bei ihr waren, wie ein Geisterschiff schälte sie sich langsam aus dem Verborgenen. Wir sprangen zurück an Bord und hoben den Anker. Die Ausfahrt aus diesem Fjord, der sich an diesem Tag so zauberhaft gezeigt hatte, geriet genauso wie die Schlauchbootfahrt zu einer wundervollen Fahrt durch ein rotes Meer, das sich um uns in einem Himmel auflöste, in dem Eisberge schwebten.

Kitschig mag das klingen. Aber Spitzbergen ist ja so oft so unfassbar kitschig, dass man es kaum glauben mag.

Wir lesen uns im September!

Polare Grüße,
Eure
Birgit Lutz


Birgit Lutz, eine preisgekrönte Autorin und ehemalige SZ-Journalistin, ist Expeditionsleiterin und gefragte Rednerin.
Ihre Polarkolumne erscheint einmal pro Monat auf unserer Homepage.



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